

Von Riesen und Zwergen
Überlegungen und Tipps für die Arbeit mit Kultmitgliedern, Kultaussteigern und deren Angehörigen
Von Dipl.-Psych. Dieter Rohmann (erschienen in „Wege zum Menschen“, 2/2002)
Über die „Träume und Visionen“ von Kultmitgliedern und die damit oft verbundenen Ängste der Angehörigen soll zu einem „Drei-Stufen-Modell“ geführt werden, das eine adäquate Vorgehensweise in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kultmitgliedern bzw. Kultaussteigern aufzeigt.
Die unmittelbar mit einem Kultausstieg verbundenen Symptome – vergleichbar mit der Spitze eines Eisbergs – können im Wesentlichen innerhalb der Stufen I und II bearbeitet werden. Der größere und nicht sichtbare Teil des Eisbergs befindet sich unter der Oberfläche und kann, erst nachdem Stufe I und II durchlaufen wurden, innerhalb der Stufe III bearbeitet werden. Die jahrelange Erprobung dieses Interventionsansatzes zeigt, dass erst dann, wenn alle diese drei Stufen – von oben nach unten – durchlaufen wurden, der Klient/die Klientin dazu befähigt werden konnte seine/ihre Kulterfahrung zu verstehen und zu verarbeiten, um schließlich zu einer selbst-akzeptierenden Grundhaltung zu gelangen.
The „dreams“ and visions of cult members often cause anxiety and fear within their families. An adequate style of practice in psychotherapeutic work with ex-cult/cult members shall be represented by an „Three-Step-Model“. The symptoms which are immediately associated with leaving a cult – compared with the tip of an iceberg – can essentially be dealt with by using Steps I and II. The larger, invisible part of the iceberg which is situated under the surface can be dealt with within Step III, but only following the completion of Steps I and II. Years of testing this attempt in intervention has shown that only when these three steps have been completed, the client is potentially capable of understanding, overcoming and integrating his/her cult experience, in order to finally reach self-acceptance.
Eigentlich gibt es nur zwei unterschiedliche Ausrichtungen von sogenannten „Sekten/Kulten“, zwei Angebotsebenen auf dem Marktplatz der spirituellen Möglichkeiten und der allgegenwärtigen Persönlichkeits- und Motivationstrainings.
Die eine Ausrichtung fühlt sich dem Motto verpflichtet „Alles ist möglich“ und verspricht dem Einzelnen mehr Effektivität, Erfolg, Steigerung der Leistungsfähigkeit, mehr Aktion als Reaktion, alles unter der Maxime: höher, schneller, weiter …
Diese Richtung ist zutiefst leistungsorientiert und stellt die Grundprinzipien unserer westlichen Industrie- und Leistungsgesellschaft keineswegs infrage. Ganz im Gegenteil: Hier wird das Leistungsprinzip als absolutes Heilsversprechen gefeiert. Es findet eine Hinwendung zur Gesellschaft und deren Werten statt. Der Weg zu sich selbst über die Maximierung der eigenen Leistungsfähigkeit. Darunter lassen sich alle sogenannten Psychokulte und die unterschiedlichsten Persönlichkeits- und Motivationsseminare subsumieren.
Ganz im Gegensatz dazu dominiert in der anderen Ausrichtung ein Gedankengut, das das Leistungsparadigma (nach unserem westlichen Verständnis) grundsätzlich infrage stellt. Die Abwendung vom Leistungsprinzip ist hier oberste Maxime. „Hin zu sich selbst“ lautet die Botschaft, die den Rückzug von den gesellschaftlichen Werten als zwingend versteht. Hier sollen alternative Nischen neben dem schon Bestehenden gefunden werden. Ziel ist die Abwendung vom Leistungsgedanken, um sich endlich auf das „Wesentliche“ konzentrieren zu können. Der Weg zu sich selbst über eine Absage an die Leistungsgesellschaft. Darunter lassen sich generell alle religiösen und esoterischen Bewegungen subsumieren. In der Vergangenheit hat eigentlich eher diese Richtung immer wieder von sich reden gemacht.
Wo auch immer sich Menschen in diesen beiden Ausrichtungen befinden mögen – sie haben sich selbst, ihre eigenen Erfahrungen, Erkenntnisse und Überzeugungen, Werte, Visionen und Träume infrage gestellt. Was grundsätzlich erst einmal nicht falsch und auch nichts Verwerfliches ist.
Sie sind/waren dadurch allerdings auch bereit, den Traum eines ihnen eigentlich fremden Menschen (Guru, Meister, Prophet, Trainer etc.) zu träumen. Dessen Visionen und Überzeugungen für eine bessere Zukunft, ein besseres Leben, eine gerechtere Welt etc. zu den eigenen zu machen. Das Dilemma liegt nun darin, dass das vermeintlich Neue und Bessere nicht auf selbst gelebtes Leben zurückzuführen ist, sondern innerhalb kürzester Zeit einfach übernommen wurde. Das Vertrauen in die eigenen, selbst definierten Träume und Visionen wurde vorerst einmal aufgegeben.
Die daraus resultierenden Veränderungen der Person sind für Angehörige meist nur sehr schwer nachvollziehbar. Sie sind oft durch eine abrupte Persönlichkeitsveränderung des Kultmitglieds irritiert. Die alte/ursprüngliche Wertewelt wurde scheinbar innerhalb kürzester Zeit durch die jeweiligen Werte des Kultes/des Führers ersetzt.
Hilflosigkeit, Enttäuschung, Wut, Trauer, Sorge und Angst werden zu ständigen Begleitern der Angehörigen. Dies sind natürliche Reaktionen, die auch ernst genommen werden sollten, die jedoch gleichzeitig den Kontakt mit dem Kultmitglied erschweren und überschatten können. Da Angst der denkbar schlechteste Berater ist, möchte ich an dieser Stelle einige Gedanken und Hinweise für die Beratung von Angehörigen mit Ihnen teilen:
- Kultmitglieder suchen ihr Heil in Inhalten. Ein großer Teil unserer westlichen Welt sucht ihr Heil in äußeren Formen.
- Es gibt kaum jemanden, der mit dem „Kopf“ in eine Sekte/einen Kult geht. Die meisten gehen mit dem „Bauch“ hinein..
- Es gibt wahrscheinlich kein Kultmitglied, das über sein Engagement im Kult nicht von Zeit zu Zeit Zweifel hegt.
- Das Kultmitglied ist Ihr/e wichtigste/r Verbündete/r – die einzige Person, die Ihnen genau sagen kann, was sie braucht, um den Kult wieder verlassen zu können.
- Im Kult kann fast alles manipuliert werden, nicht aber die eigene, persönliche Vergangenheit.
- Gehen Sie weg von der Vorstellung: Die haben mir mein Kind, meinen Partner etc. weggenommen und gehirngewaschen. Kultmitglieder sind sehr wohl dazu fähig, selbst zu denken. Wo kämen sonst die vielen Aussteiger her?
- Engagieren Sie sich nicht gegen den Kult und das Kultmitglied, sondern für das Kultmitglied.
- Angehörige sollten keinesfalls mit Aggression und Vorwürfen reagieren. Das führt zum einen dazu, dass das Kultmitglied in eine Verteidigungsrolle gebracht wird und verhindert jegliche Austauschmöglichkeit, und zum anderen führt es dazu, dass Sie dem Kult mehr Macht geben, weil genau dieses Verhalten vom Kult vorhergesagt wurde.
- Es geht nicht darum, wer die besseren Argumente oder wer recht hat. Begeben Sie sich als Angehörige nicht in diese Falle. Damit ist niemandem geholfen.
- Zeigen Sie sich interessiert und respektvoll aber dennoch kritisch gegenüber dem Kult.
- Stellen Sie Fragen. Nur wer fragt, bekommt auch Antworten. Z. B.: Was suchst du? Hast du es gefunden? Was wurde dir in Aussicht gestellt/versprochen? Wie lange wird das dauern, bis du dort bist, wo du hin möchtest? Wie kann ich dir dabei helfen?
- Werden Sie sich darüber klar, warum Ihr Sohn/Tochter/Partner in den Kult gegangen ist. Tauschen Sie sich innerhalb Ihrer Familie aus. Tabuisieren Sie das Thema nicht untereinander.
- Angst entsteht dann, wenn wir mit etwas total Fremden konfrontiert sind, das wir nicht kennen und über das wir nichts wissen. Diese Angst verschwindet in dem Maße, in dem wir uns Wissen über das Fremde aneignen und dadurch verstehen lernen.
- Holen Sie sich kompetente Hilfe in einer der Beratungsstellen in Ihrer Nähe. Hilfe, die dazu beiträgt, besser verstehen zu lernen und die den Bau einer „Brücke“ zum Kultmitglied ermöglicht.
- Es kann nicht darum gehen, Ihren Sohn/Tochter/Partner noch mehr zu schwächen, sondern eher darum, ihn/sie zu stärken, um eigene Entscheidungen treffen zu können.
- Sie verlangen von Ihrem Sohn/Tochter/Partner, dass er/sie sich verändert, verändert hinsichtlich eines Ausstiegs aus der Bewegung. Das sollten Sie aber nur dann tun, wenn auch Sie bereit sind, sich zu verändern.
- Konzentrieren Sie sich auf den Menschen, den Sie kennen und nicht auf das Kultmitglied.
- Ihre Begegnungen und Gespräche sollten von gegenseitigem Respekt geprägt sein.
- Wagen Sie einen Neubeginn Ihrer Beziehung, denn jeder, der einem Kult beitritt, ist auch fähig ihn wieder zu verlassen, wenn seine Zeit dazu gekommen ist.
Unter „Andere Klinisch Relevante Probleme“ lässt sich im DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen) die Kategorie V62.89 (Z71.8) „Religiöses oder Spirituelles Problem“ mit folgender Kurzbeschreibung finden: „Diese Kategorie kann verwendet werden, wenn im Vordergrund der klinischen Aufmerksamkeit ein religiöses oder spirituelles Problem steht. Beispiele sind belastende Erfahrungen, die den Verlust oder das Infragestellen von Glaubensvorstellungen nach sich ziehen, Probleme im Zusammenhang mit der Konvertierung zu einem anderen Glauben oder das Infragestellen spiritueller Werte, auch unabhängig von einer organisierten Kirche oder religiösen Institution“.
Der „Verlust oder das Infragestellen von Glaubensvorstellungen“ geht in der Regel mit dem Ausstieg aus einer religiösen Glaubensgemeinschaft, einer sogenannten Sekte, einem Kult einher. Hier soll nun dargestellt werden, wie eine effektive einzeltherapeutische Kurzbegleitung (5 – 25 Sitzungen) von Kultmitgliedern bzw. -aussteigern in der Praxis aussehen könnte.
Es gibt unterschiedliche Wege eine sogenannte Sekte oder einen Kult zu verlassen:
- aufgrund eigener negativer Erfahrungen und/oder dem Wahrnehmen einer Diskrepanz zwischen Lehre und tatsächlichem Handeln,
- durch Ausschluss aus der Gemeinschaft vonseiten der Leitung oder
- durch Gespräche und Informationsaustausch mit Angehörigen, Freunden bzw. professionellen Beratern.
Jeder dieser Wege aus einem Kult/einer Sekte ist jedoch mit einigen typischen Problemen und Symptomen für das Mitglied verbunden. Diese sind u. a. abhängig von der Dauer der Mitgliedschaft und der Position, die der Aussteiger dort innehatte. Die folgenden Symptome (Giambalvo, 1993) sind in der Regel unmittelbar mit einem Kultaustritt verbunden und stehen deshalb auch primär im Vordergrund der Aufmerksamkeit:
Schuldgefühle, eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit, Perspektivlosigkeit, Sorge und Trauer, Wut und Ärger, Furcht und Angst, Isolationsempfindungen, Misstrauen, die Tendenz zu verabsolutiertem dichotomen Denken, dissoziative Zustände, das Gefühl überflüssig und wertlos zu sein, sogenannte Floatingerlebnisse, Schlafstörungen und Albträume, familiäre und berufliche Probleme, Entfremdungsgefühle, Depressionen etc.
Der Allgemeinzustand nach einem Austritt kann als kritisches Lebensereignis, als Krise verstanden werden; im Sinne von „nicht mehr – noch nicht“. Nicht mehr, weil die Wertewelt des jeweiligen Kultes sich für den Aussteiger (aus welchen Gründen auch immer) als nicht mehr tragfähig erwiesen hat. Noch nicht, weil die Wertewelt unserer Gesellschaft – einstmals für die Person als ebenso wenig tragfähig empfunden – nunmehr erneut zur Disposition steht.
Anschaulich beschreibbar ist dieser Zustand mit einem Leerraum, begrenzt durch die Wertewelten in Form von zwei Mühlsteinen, zwischen denen der Aussteiger einem hohen Druck ausgesetzt ist und Gefahr läuft, zermahlen zu werden.
Um Kultmitglieder beziehungsweise Kultaussteiger in dieser Phase nun adäquat begleiten zu können, sollten nach einer gründlichen Anamnese, Exploration und Diagnostik* folgende drei Stufen der Reihe nach durchlaufen werden.
Grafische Darstellung des Drei-Stufen-Modells von Dieter Rohmann
In der Stufe I geht es vorwiegend um die Vermittlung von Hintergrundinformationen der jeweiligen Bewegung, wie Kultideologie, Kulthierarchie und Kultalltag sowie um einen Austausch zu spirituellen, religiösen, philosophischen, aber auch politischen Themen etc. Dazu ist es für den Beratenden/die Beratende notwendig zu ermitteln, mit welcher Kultkategorie er/sie es eigentlich zu tun hat (christlich-fundamentalistische Gruppierung, Gurubewegung, Psychokult oder esoterische Bewegung).
Zudem sollte er/sie sich Kenntnis über den spezifischen Kult und dessen religiöse/ spirituelle Ausrichtung aneignen. Er/sie sollte verstehen lernen, welche absolut verbindliche Wertewelt der entsprechende Kult geschaffen hat, was im Kult als erwünschtes bzw. unerwünschtes Verhalten definiert und wie von der Ideologie/Doktrin abweichendes Verhalten sanktioniert wird. Hierbei spielt auch das Konzept der sozialen Erwünschtheit eine Rolle, zumal es in Kulten absolut verbindliche Normen über gutes Verhalten oder positive Eigenschaften gibt.
Die meisten Kulte argumentieren im Rahmen eines verabsolutierten, dichotomen Denkens im Sinne von entweder – oder, schwarz – weiß, gut – böse, drinnen – draußen. Die Vielfalt des Farbspektrums zwischen Schwarz und Weiß kann schließlich nicht mehr wahrgenommen werden; für Zwischentöne und Schattierungen findet sich kein Platz mehr. Von besonderer Bedeutung ist deshalb auch das Wissen darüber, welche persönlichen, negativen Folgen – laut Prophezeiung des Kultes – ein Austritt nach sich zieht. Als Folge dieser extremen, kognitiven Ausrichtung kann bei Kultmitgliedern im Laufe der Zeit eine sogenannte Ausstiegsphobie entstehen. Findet dennoch ein Ausstieg statt, lassen sich folglich o.g. Symptome in unterschiedlicher Form und Intensität beobachten.
In Stufe II sollte die Theorie der Bewusstseinskontrolle von Lifton (1963) erklärt sowie auf verschiedene sozial- bzw. wahrnehmungspsychologische Theorien näher eingegangen und auf den betreffenden Kult übertragen werden. Von Bedeutung sind hier z. B. die Theorien der Konformität nach Asch (1956), des Locus of Control (Rotter, 1966), der Attribution (Weiner, 1974), der Kognitiven Dissonanz (Festinger et al., 1956), der Forced Compliance (Festinger & Carlsmith, 1959), der erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 1975), der Gehorsamkeitsbereitschaft gegenüber Autoritäten (Milgram, 1974), der Deindividuation (Zimbardo, 1969), der Self Fulfilling Prophecy (Merton, 1948) und der selektiven Wahrnehmung (Hernandez-Peon, 1966).
Das Erklären und Darstellen dieser Theorien trägt u. a. dazu bei, dass dem Klienten bewusst wird, in welchem Ausmaß wir alle – abhängig vom jeweiligen Kontext – entscheiden, wahrnehmen, getäuscht oder manipuliert werden bzw. uns täuschen lassen oder Manipulation zulassen. In Stufe II wird für den Klienten in anschaulicher Weise nachvollziehbar, dass es zum einen beinahe jedem passieren könnte – unter bestimmten Voraussetzungen -, den Verheißungen eines Kultes Folge zu leisten, und es zum anderen durchaus nicht selbstverständlich ist, Indoktrinationsmechanismen ohne Weiteres zu erkennen und als solche zu durchschauen. In dieser Phase wird auch seine/ihre Rolle und das eigene Engagement im Kult erneut schmerzhaft bewusst.
Beide dieser Stufen tragen dazu bei, das im Kult Erfahrene zu verstehen, erklären und verarbeiten zu können. Die mit einem Ausstieg unmittelbar verbundenen oben genannten Symptome und Probleme können hier in der Regel vollständig be- und verarbeitet werden.
In Stufe III werden nun Motive und prädisponierende Faktoren analysiert, die für die Einmündung in den jeweiligen Kult verantwortlich gewesen sein könnten. Spätestens jetzt möchte der Klient/die Klientin erkennen, warum gerade er/sie diesen Weg eingeschlagen hat und warum es ihm/ihr nicht früher möglich war „Nein“ zu sagen und einfach zu gehen. Hier geht es um Themenbereiche, die für den Klienten vor dem Kulteintritt von Bedeutung waren, wie frühere Verletzungen, Verlusterlebnisse, Ängste, Familie, Partnerschaft, Freundschaften, Emotionen, Einsamkeit, Sexualität, Kommunikation, Frustration, Selbstwert, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Unsicherheit, Zukunftsorientierung, Abhängigkeit, Autonomie, Einstellungen, Erwartungen etc.
Eingeleitet werden kann diese Stufe z. B. mit folgenden Fragestellungen:
- Welche Wünsche, Träume und Sehnsüchte hatten Sie vor dem Kulteintritt?
- Welche Ängste, Verletzungen und Enttäuschungen haben Sie damals erfahren?
- Warum glauben Sie, waren Sie so empfänglich für die Ideologie etc. Ihres Kultes?
- Warum glauben Sie, diesen Rahmen gebraucht zu haben?
- Wonach haben Sie eigentlich gesucht?
- Haben Sie das, was Sie ursprünglich suchten, gefunden?
- Warum haben Sie so lange damit gewartet, Ihre Bewegung zu verlassen?
- Was hat Sie letztendlich dazu befähigt, Ihren Kult zu verlassen?
- Konnten Sie vor Ihrer Kulterfahrung „Nein“ sagen?
Stufe III ist deshalb von besonderer Relevanz, weil im psychotherapeutischen Setting immer wieder deutlich wurde, dass zusätzlich zu den Problemen, die einen Austritt unmittelbar begleiten, auch die belastenden Themenkomplexe aus der Präkultphase, dem Leben vor dem Kult, erneut aktuell werden. Es hat sich in der Praxis immer wieder gezeigt, dass diese Problemkreise während der Mitgliedschaft lediglich „auf Eis gelegt“ waren und erst mit dem Ausstieg wieder ganz konkret aktuell wurden.
Immer wieder haben sich in der Vergangenheit ehemalige Kultmitglieder (zwischen 1 bis 8 Jahre nach ihrem Ausstieg) mit der Bitte um Beratung/Begleitung an mich gewandt. All diese Aussteiger hatten unmittelbar nach ihrem Ausstieg Hilfe in Anspruch genommen. Die meisten wandten sich an die Beauftragten für Weltanschauungsfragen der beiden Amtskirchen, an diverse Sekten-Beratungsstellen, an Psychologen und Sozialpädagogen oder berichteten von einem Psychiatrieaufenthalt. Erstaunlicherweise hatten die Aussteiger trotz dieser durchaus professionellen Begleitung noch Jahre danach ihre Kulterfahrung nicht verarbeitet und berichteten noch immer von unterschiedlichsten Störungen, die mit ihrer damaligen Mitgliedschaft und dem Ausstieg in engem Zusammenhang standen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass sich herkömmliche Beratungsstellen in ihrer Arbeit mit Kultmitgliedern bzw. Kultaussteigern vorwiegend auf Inhalte der Stufe I und evtl. auf Teile der Stufe II beschränken, und im psychotherapeutischen Setting hauptsächlich mit Stufe III und evtl. mit Teilen der Stufe II gearbeitet wird. Die Vermutung liegt nahe, dass die isolierte Bearbeitung einzelner Stufen unmittelbar nach einem Kultaustritt zwar hilfreich ist und als unterstützend erlebt wird, jedoch für eine langfristige und dauerhafte Verarbeitung des Erlebten nicht ausreichend zu sein scheint. Nach meiner Erfahrung ist beim Klienten erst dann die Bereitschaft dafür geschaffen, sich überhaupt intensiv auf Stufe III einlassen zu können, wenn die Stufen I und II nacheinander durchlaufen und inhaltlich verstanden wurden. Aber erst durch Stufe III kann es dem Klienten gelingen, sowohl sich selbst zu vergeben, als auch eine sich selbst-akzeptierende Haltung für den weiteren Lebensweg zu entwickeln.
* z.B. mit Hilfe des Gießen-Test (GT) von Beckmann, Brähler & Richter (1990), des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI-R) von Fahrenberg, Hampel & Selg (2001), des IPC-Fragebogens zu Kontrollüberzeugungen von Krampen (1981) und des Fragebogens irrationaler Einstellungen (FIE) von Klages (1989).
Nicht der Riese seiner/ihrer Träume zu sein, aber auch nicht der Zwerg seiner/ihrer Ängste.
- American Psychiatric Association (Hrsg.). (1998). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM IV (2., verbesserte Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
- Beckmann, D., Brähler, E. & Richter H.-E. (1990). Der Gießen-Test (GT) (4., überarbeitete Aufl.). Bern: Verlag Hans Huber.
- Fahrenberg, J., Hampel, R., Selg, H. (2001). Das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R) (7., revidierte Aufl.). Göttingen: Hogrefe Verlag.
- Festinger, L., Riecken, H.W. & Schachter, S. (1956). When prophecy fails. New York: Harper & Row.
- Festinger, L. & Carlsmith, J.M. (1959). Cognitive consequences of forced compliance. Journal of Abnormal and Social Psychology, 58, 203-210.
- Giambalvo, C. (1993). Post cult problems. An exit counselor´s perspective. In M.D. Langone (Hrsg.), Recovery from cults. New York: Norton & Company.
- Hernandez-Peon, R. (1966). Physiological mechanisms in attention. In R.W. Russel (Hrsg.), Frontiers in physiological psychology. New York: Academic Press.
- Klages, U. (1989). Fragebogen irrationaler Einstellungen (FIE). Göttingen: Hogrefe.
- Krampen, G. (1981). IPC-Fragebogen zu Kontrollüberzeugungen. Göttingen: Hogrefe.
- Lifton, R.J. (1963). Thought reform and the psychology of totalism. New York: Norton & Company.
- Merton, R.K. (1948).The self-fulfilling prophecy. The Antioch Review, 8, 193-210.
- Milgram, S. (1974). Obedience to authority. New York: Harper & Row.
- Rotter, J.B. (1966). Generalized expectancies for internal versus external control of reinforcement [Themenheft]. Psychological Monographs, 80.
- Seligman, M.E.P. (1975). Helplessness. On depression, development and death. San Francisco: Freeman.
- Weiner, B. (Hrsg.). (1974). Achievement motivation and attribution theory. Morristown: General Learning Press.
- Zimbardo, P.G. (1969). The human choice. Individuation, reason, and order versus deindividuation, impulse and chaos. In W.D. Arnold & D. Levine (Hrsg.), Nebraska symposum on motivation. Lincoln: University of Nebraska Press.