Rehabilitation

Jede Kultgeschichte – wie auch jede Lebensgeschichte – eines Aussteigers ist einzigartig. Für einige ehemalige Mitglieder verläuft der Rehabilitationsprozess relativ unproblematisch. Für andere, besonders für Langzeitmitglieder, kann der Prozess Monate – oder wenn sie keine adäquate Begleitung erfahren – sogar Jahre dauern.

Als unlösbar definierte Probleme, die bereits vor dem Kulteintritt bestanden und während der Mitgliedschaft „auf Eis gelegt“ waren, werden nach einem Austritt wieder aktuell. Durch die Konfrontation mit diesen alten Problemen steht das Ex-Mitglied wieder an genau dem Punkt, dem es schon einmal – damals durch einen Kultbeitritt – entflohen ist (z. B. Selbstwertgefühl, Schul- und Berufsausbildung, Familienprobleme, Beziehungsprobleme, Sexualität).

Es ist deshalb äußerst wichtig, das Ex-Mitglied in der Rehabilitationsphase direkt und fachgerecht zu begleiten. Eben nicht nur, um Hilfestellung zu leisten bei der Verarbeitung der Kulterfahrung, sondern auch bei der Bewältigung der alten und nun wieder aktuellen Probleme, die ursprünglich zum Kulteintritt geführt haben Stufe II
So setzt die auf anhaltenden Erfolg ausgelegte Hilfe bei den Ursachen an und nicht bei den offen sichtbaren Symptomen. Hierbei hat sich das Vorgehen in drei Stufen als äußerst hilfreich erwiesen. Auf dieser Basis kann das Ex-Mitglied dann neue, diesmal eigene Ziele und Perspektiven erarbeiten, bei deren Umsetzung es bis zu einem gewissen Grad noch weiter unterstützt werden sollte.

Typische Symptome und Probleme, die einen Kultaustritt in der Regel begleiten

Floating. Das sind sogenannte „Flashbacks“ zurück in die Denkweise, die Gefühlswelt und den Kontext des jeweiligen Kultes, die oft begleitet sind von euphorischen Zuständen.

Das Gefühl, überflüssig und wertlos zu sein, nicht gebraucht zu werden. Ehemalige haben eine Gruppierung verlassen, in der sie „wichtige“ Aufgaben und Ziele zu erfüllen hatten, die sie in ständiger Aktivität hielten. Sie vermissen die Gipfelerlebnisse und den Antrieb, die durch die Intensität der Gruppendynamik hervorgerufen wurden.
Perspektivlosigkeit. Ehemalige wissen nach ihrem Austritt nicht, was sie in „dieser Welt“ wollen und sollen. Es müssen oft mühsam neue, diesmal eigene Zukunftsperspektiven erarbeitet werden.

Verlegenheit. Das ist eine Auswirkung der Unfähigkeit, über ihre Kulterfahrungen zu sprechen; zu erklären, wie und warum sie einem Kult beigetreten sind und was sie während der ganzen Zeit dort gemacht haben. Eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit anderen Menschen oder beruflichen Situationen geht ihnen dadurch verloren.

Schuldgefühle. Zum einen fühlen sich Ehemalige schuldig, überhaupt der Gruppierung beigetreten zu sein und später selbst Menschen rekrutiert zu haben. Zum anderen schämen sie sich für die Dinge, die sie während ihrer Mitgliedschaft getan haben.
Sorge um die zurückgebliebenen Gruppenmitglieder und eventuell Angehörigen und Trauer um den Verlust der Gemeinschaft. Trauer auch um den Verlust des sinnvollen Engagements für „große“ Aufgaben und hohe Ziele, z. B. Einsatz für den Weltfrieden oder das baldige Gottesreich.
Misstrauen gegenüber ihrer sozialen Umgebung, gegen organisierte Religion (wenn sie einem religiösen Kult angehörten) und Organisationen generell.
Dies beinhaltet aber auch Misstrauen gegenüber ihren eigenen Fähigkeiten wahrzunehmen, ob und wann sie erneut manipuliert werden. Nachdem sie mehr über Manipulationstechniken und psychologische Modelle erfahren haben, können sie wieder klarer differenzieren und ihrer inneren Stimme vertrauen lernen.
Isolationsempfindungen. Ehemalige haben oft das Gefühle, dass keiner verstehen kann, was sie durchgemacht haben. Dies bezieht sich besonders auf ihre Familien.
Die Tendenz, nur in „Schwarz und Weiß“, in Extremen zu denken, wie es im Kult üblich war. Ehemalige müssen erneut lernen, auch die Grautöne, Farben wahrzunehmen, um der Komplexität des Daseins gerecht werden zu können.
Unfähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Der Verlust der Selbstbestimmung in derartigen Organisationen führt oft zu einer Entscheidungsunfähigkeit. Dieses Unvermögen ist ein Beleg für die Abhängigkeit und Unselbstständigkeit, die im Kult gefördert wurde.
Kommunikationsstörungen. Diese entstehen vor allem durch die im Kult eingesetzte Technik der „Manipulation der Sprache“, die bewirkt, dass Kulterfahrungen nur in der jeweiligen kultspezifischen Sprache verbalisiert werden können und somit von Nichtmitgliedern nicht verstanden werden.
Entfremdungsgefühle gegenüber früheren Freunden (vor der Kultmitgliedschaft) und der eigenen Familie aufgrund der für Außenstehende schwer nachvollziehbaren Kulterfahrung und den oben genannten Kommunikations-störungen.

Ungelöste Familienprobleme
Alles wird „spiritualisiert“. Diese Verhaltensweise hält manchmal recht lange an. Ehemalige sollten darin ermutigt werden, nach logischen Erklärungen für Ereignisse und Erlebnisse zu suchen, um ihre irrationale, oft „magische“ Denkweise loslassen zu können.

Schwaches Selbstvertrauen, geringe Selbstachtung. Das resultiert aus ihren Kulterfahrungen, in denen sie als nutzlos, schuldig und schwach dargestellt wurden. Sie trauen sich kaum zu, eine eigene Meinung zu äußern. Dies ist die Auswirkung des gezielten manipulativen Einsatzes von Lob und Tadel im Kult.

Abhängigkeit und die Gefahr einer „Abhängigkeitsverlagerung“. Oft versuchen Ehemalige, die Leidensphase nach einem Kultaustritt abzukürzen, indem sie sich z. B. vorschnell in eine Partnerschaft begeben oder sich einer neuen Religionsgemeinschaft anschließen.

Probleme mit der eigenen Sexualität und mit der Sexualmoral generell, speziell aber der Verlust des Zugangs zum eigenen Körper.
Furcht und Angst davor, dass das, was der jeweilige Kult im Falle eines Ausstiegs an schlimmen Konsequenzen prophezeit hat, auch tatsächlich eintreten wird. Sie haben das Gefühl, versagt zu haben und deshalb (von Gott, Satan, Geistern, Dämonen) bestraft werden zu müssen.

Religiöse Angstsymptome. Einige Ehemalige erleben Halluzinationen und hören Stimmen, die als „Zeichen und Wunder“ verstanden und je nach persönlicher Situation interpretiert werden.
Wut und Ärger gegenüber der Gruppe und/oder gegenüber dem Kultführer. Nicht selten richten sie diese Wut auch gegen sich selbst.
Depressionen
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen
Dissoziation. Auch dieser Zustand wurde vom Kult gefördert. In diesen Phasen befindet sich der Ehemalige nicht mehr in Kontakt mit der Realität oder den ihn umgebenden Personen. Er ist dann unfähig zu kommunizieren. Auf Außenstehende wirkt er wie jemand, der „ganz weit weg, ganz woanders“ ist.
Schlafstörungen und Albträume
Spirituelle und philosophische Fragen/Probleme. Die Weltanschauung und die Werte des jeweiligen Kultes haben sich als nicht tragfähig erwiesen. Eine neue, eigene Wertewelt muss gefunden werden.

(Teilweise entnommen aus Langone, M.D. & American Family Foundation (1993). Recovery From Cults)