Darstellung der therapeutischen Arbeit mit Kultmitgliedern
bzw. -aussteigern anhand eines Drei-Stufen-Modells

von Dipl.-Psych. Dieter Rohmann (veröffentlicht als Originalmaterial im „Report Psychologie 5,6/2000“)

Unter „Andere Klinisch Relevante Probleme“ lässt sich im DSM-IV die Kategorie V62.89 (Z71.8) „Religiöses oder Spirituelles Problem“ mit folgender Kurzbeschreibung finden: „Diese Kategorie kann verwendet werden, wenn im Vordergrund der klinischen Aufmerksamkeit ein religiöses oder spirituelles Problem steht. Beispiele sind belastende Erfahrungen, die den Verlust oder das Infragestellen von Glaubensvorstellungen nach sich ziehen, Probleme im Zusammenhang mit der Konvertierung zu einem anderen Glauben oder das Infragestellen spiritueller Werte, auch unabhängig von einer organisierten Kirche oder religiösen Institution“.

Der „Verlust oder das Infragestellen von Glaubensvorstellungen“ geht in der Regel mit dem Ausstieg aus einer religiösen Glaubensgemeinschaft, einer sogenannten Sekte, einem Kult oder einer neureligiösen Gruppierung einher. Hier soll nun dargestellt werden, wie eine effektive einzeltherapeutische Kurzbegleitung (5 – 20 Sitzungen) von Kultmitgliedern bzw. -aussteigern in der Praxis aussehen könnte.

Es gibt unterschiedliche Wege eine sogenannte Sekte oder einen Kult zu verlassen:

  • aufgrund eigener negativer Erfahrungen und/oder dem Wahrnehmen einer Diskrepanz zwischen Lehre und tatsächlichem Handeln,
  • durch Ausschluss aus der Gemeinschaft vonseiten der Leitung oder
  • durch Gespräche und Informationsaustausch mit Angehörigen, Freunden bzw. professionellen Beratern.

Jeder dieser Wege aus einem Kult/einer Sekte ist jedoch mit einigen typischen Problemen und Symptomen verbunden, die von Person zu Person variieren und u. a. abhängig sind von der Dauer der Mitgliedschaft und der Position, die das Mitglied dort innehatte. Die folgenden Symptome (Giambalvo, 1993) sind in der Regel unmittelbar mit einem Kultaustritt verbunden und stehen deshalb auch primär im Vordergrund der Aufmerksamkeit:

Schuldgefühle, eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit, Perspektivlosigkeit, Sorge und Trauer, Wut und Ärger, Furcht und Angst, Isolationsempfindungen, Misstrauen, die Tendenz zu verabsolutiertem dichotomen Denken, dissoziative Zustände, das Gefühl überflüssig und wertlos zu sein, sogenannte Floatingerlebnisse, Schlafstörungen und Albträume, familiäre und berufliche Probleme, Entfremdungsgefühle, Depressionen etc. Der Allgemeinzustand nach einem Austritt kann als kritisches Lebensereignis, als Krise verstanden werden; anschaulich beschreibbar mit den Worten: „nicht mehr – noch nicht“. Um Kultmitglieder bzw. Kultaussteiger nun adäquat begleiten zu können, sollten nach einer gründlichen Anamnese und Diagnostik * folgende drei Stufen der Reihe nach durchlaufen werden (s. grafische Darstellung).

Literaturverzeichnis
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